In Vorbereitung auf meinen gestrigen
Besuch beim NDR habe ich einige Zahlen und Einschätzungen zur russischen Wirtschaftslage und zu möglichen Sanktionen gesammelt. Natürlich standen gestern vor allem die aktuellsten Entwicklungen und globalpolitische Schuldfragen im Vordergrund. Ein genauerer Blick auf die ökonomische Ausgangssituation lohnt sich aber.
Zur Ausgangslage: Auch ohne die Krimkrise wäre eine Rezession in Russland in diesem Jahr durchaus möglich gewesen. Vor dem Hintergrund der sich erholenden Weltkonjunktur und den akzeptablen bis guten Wachstumsraten der anderen BRIC-Staaten (Brasilien +2,5% Indien +4,7% China +7,6%) werden dadurch einige hausgemachte Probleme sichtbar.
Es gibt drei Hauptfaktoren, die das russische Wachstum bestimmen. Zum einen ist die
Arbeitsproduktivität in Russland deutlich unter der führender Industrieländer. Hier gibt es immer noch ein großes Potential für aufholendes Wachstum. Wenn Kapital und Knowhow einigermaßen ungehindert fließen können, kann Russland alleine durch Konvergenz wachsen (Faktor 1). Ein weiterer Treiber des russischen Wachstums ist der Ressourcenreichtum. Zwar können die Rohstoffexporte auch die Entwicklung in anderen Branchen
behindern, allerdings zeigen Länder wie Norwegen, dass sich der
Ressourcensegen sehr gut in nachhaltiges Wachstum umsetzen lässt (Faktor 2).
Steigende Ölpreise und Konvergenz haben die russische Wirtschaft in den 2000er Jahren zu
hohen Wachstumsraten verholfen. Unterstützt wurden sie dabei von einem dritten Faktor: Die Rolle des Staats in der Wirtschaft. In seiner ersten Amtszeit setzte Putin einige Reformen um (vor allem die Vereinfachung des Steuerrechts), die unter Investoren für mehr Vertrauen sorgten und das russische Investitionsklima deutlich verbesserten. Dabei waren die konkreten Eingriffe Putins hilfreich, noch wichtiger war aber, dass er auf eine selbstständige Marktwirtschaft zu setzen schien. Dadurch verbanden viele Investoren mit ihm die Hoffnung auf weitere Reformen in der Zukunft (Faktor 3).
Putin hat auch in der Folge die wirtschaftliche Entwicklung immer wieder zur Chefsache erklärt und seine Politik durch die hohen Wachstumsraten legitimiert. Allerdings gab es spätestens mit der Yukos-Affäre einen Politikwechsel weg von der Verbesserung allgemeingültiger Regeln und hin zu einer größeren Bedeutung staatlicher und staatsnaher Konzerne. In der Finanzkrise wurde der Einfluss des Staates
weiter ausgedehnt. In der Folge wurden zwar Reformen auf der Makroebene (bspw. in der Zentralbank)
weitergeführt, allerdings ging es bei den schwierigeren Themen (Wettbewerbsrecht, Rentenreform, Korruption), für die auch politische Widerstände überwunden werden müssen, nicht voran.
Stattdessen setzt die russische Regierung seit einigen Jahren auf eine ganze Reihe gigantischer staatlicher Projekte als Variante der Wirtschaftsentwicklung. Die Gaspipeline Nord Stream, der APEC-Gipfel in Wladiwostok, die olympischen Winterspiele in Sochi, die nächste Pipeline South Stream, die Fußball-WM 2018 - in jedes einzelne dieser Projekte wurden und werden zweistellige (Euro) Milliardenbeträge investiert. Als weiteres Projekt ließe sich nun der wirtschaftliche Aufbau der Krim einreihen. Alle diese Projekte erzeugen den Schein des Fortschritts, geführt durch einen starken Staat. Auf den wirtschaftlichen Wohlstand der Russen haben sie aber kaum Einfluss - ihre Wirkung bleibt medial.
Die Ukraine-Politik des Kremls ist ein weiteres, deutliches Zeichen dafür, dass Putin sich von seiner ursprünglichen ökonomischen Ausrichtung inzwischen entfernt hat. Vielleicht glaubt er nicht mehr an eine Entwicklungsperspektive für Russland, die von einer starken Privatwirtschaft getragen wird. Vielleicht sieht er sich nicht in der Lage, die dafür notwendigen Reformen im Inland durchzuführen. Mein Eindruck ist, dass die wirtschaftliche Entwicklung aktuell in Putins Agenda weit nach unten gerutscht ist. Wirtschaftliche Reformen würden erst in einigen Jahren Früchte tragen. Die Ukraine-Krise steigert Putins Popularität im Hier und Jetzt.
Diese starke "Gegenwartspräferenz" Putins, die Verkürzung des zeitlichen Horizonts, birgt große Risiken für das Land. Auch wenn sich in Moskau kaum deutlicher Widerstand regt, warnen doch die liberaler gesinnten
Finanzminister und
Ex-Finanzminister vor dem "Preis", den das Einverleiben der Krim für Russland haben wird. Investoren scheren sich aus moralischer Perspektive zwar wenig darum, ob sie ihr Geld in einer Demokratie oder in einer "lupenreinen" Demokratie anlegen, allerdings verschlechtert sich in ihren Augen das Verhältnis von Risiko und Rendite in Russland. Das sorgt für Kapitalabflüsse aus Russland, die im ersten Quartal über 70 Mrd. Dollar betrugen (nach 62,7 Mrd. im Vorjahr) und im Jahresverlauf
auf 150 Mrd. anwachsen könnten.
Das hat zur Folge, dass russische Unternehmen ihre Investitionen aufschieben müssen. Außerdem setzt es den Rubel unter Druck, was die Rückzahlung und den "Rollover" (Erneuerung) ausländischer Kredite weiter erschwert. Der russische Privatsektor ist im Ausland mit ca. 650 Mrd. Dollar verschuldet, wovon 150 Mrd. in den kommenden 12 Monaten erneuert werden müssen. Die schrumpfende Investitionsnachfrage wird sich im Wachstum bemerkbar machen. Die Weltbank rechnet auch ohne Sanktionen
in ihrem pessimistischeren Szenario mit einer Rezession (-1,8% Wachstum).
Die liberaleren Kräfte in der russischen Regierung haben getan was sie konnten: Die Staatsverschuldung liegt bei niedrigen 7%, die Zentralbank verfügt über 500 Mrd. Dollar Devisenreserven, der Wohlfahrtsfonds und der Reservefonds sind mit jeweils knapp 90 Mrd. Dollar ebenfalls gut gefüllt. Der Haushalt ist ausgeglichen, wobei die Hälfte der Einnahmen des föderalen Budgets aus Öl- und Gasexporten kommen. Trotzdem sieht es für die kommenden Jahre nicht gut aus. Mit einem Präsident, der aktuell seine gesamte Aufmerksamkeit außenpolitischen Abenteuern widmet, wird es so schnell keine strukturellen Reformen geben. Gleichzeitig rechnet für die nächsten Jahre kaum jemand mit steigenden Ölpreisen (wenn es zu keinem Ölembargo gegen Russland kommt). Ohne das Vertrauen bzw. das Kapital der Investoren kann aber auch keine breiter angelegte, aufholende Entwicklung der russischen Wirtschaft stattfinden.