Der Ukraine-Konflikt zwingt uns wie kaum ein anderes politisches Ereignis zuvor zur kritischen Auseinandersetzung mit unserem eigenen Erkenntnis-Werkzeugkasten. Das liegt zum einen daran, dass progressive und "anarchische" Formen der Berichterstattung über Smartphone-Kamera, Youtube und Facebook gerade ihre Unschuld verloren haben. Das kurze Zeitfenster, in denen autoritäre Regierungen die Bedeutung der sozialen Medien entweder verkannten oder aber noch nicht über die technische Expertise verfügten, diese gezielt zu manipulieren, hat sich geschlossen.
Zum anderen ist die aktuelle Führung Russlands nicht nur in der Lage, über die verstaatlichte russische Medienlandschaft die Meinungsbildung nach innen gut zu kontrollieren. Sie sieht auch in der Informationspolitik nach außen eine zentrales und legitimes Mittel für die Durchsetzung der eigenen Interessen. Mit anderen Worten: Professionelle Propaganda hat die digitale Welt erfasst!
Wie können wir unter diesen Bedingungen im Internet, in Blogs und auf Facebook noch zwischen richtig und gefälscht unterscheiden? Computer ausschalten ist eine Lösung. Und wenn wir das nicht wollen?
Die einfachste Heuristik für den Umgang mit russischer Propaganda ist: Pro-Russland = Propaganda. Anti-Russland = Wahrheit. Dieser Reflex ist deshalb so verlockend, weil nichts unangenehmer ist, als der russischen Propaganda aufgesessen zu sein und damit als "nützlicher Idiot" dem Kreml gedient zu haben. Diese Gefahr ist gebannt, wenn man sich an die russlandkritischen Berichte hält.
Gleichzeitig ist diese Form der Propaganda-Abwehr natürlich alles andere als souverän. Wir immunisieren uns gegen Propaganda, indem wir den vermuteten Wahrheitsgehalt einer Nachricht von ihrem Inhalt abhängig machen. So lassen wir uns zwar nicht direkt durch den Kreml manipulieren, aber unsere Sehkraft leidet trotzdem. Unsere Antwort auf den großen russischen Propagandisten Kiseljow von Russia Today ist, dass wir in unseren Köpfen viele kleine Anti-Kiseljows errichten.
Das ist problematisch, weil soziale Medien inzwischen zu einer undurchschaubaren Grauzone der Berichterstattung geworden sind. Auf Facebook debattieren namhafte Journalisten und Politiker auf öffentlich zugänglichen Seiten. Dabei wird mit einer viel geringeren Verbindlichkeit und Genauigkeit diskutiert und geteilt, als es diese Personen in ihrem beruflichen Leben tun würden. Alles ist ein bisschen spielerisch, indirekt, angedeutet. Niemand muss aus dem Teilen einer Fehlinformation auf Facebook berufliche Konsequenzen ziehen. Alleine die Forderung nach einer Gegendarstellung zu einem Facebook-Posting - lächerlich. Trotzdem liest man dort die bekannten Namen, die man sonst neben Artikeln in der ZEIT liest oder zu einem Kommentar in der Tagesschau, und sie geben der geteilten Meldung Autorität und Authentizität.
Die folgende Geschichte hat mich zu diesem Blogeintrag motiviert: Über die Seite eines Politikers las ich in meinem Facebook-Feed die Nachricht zu einer Pipeline-Explosion, die in der Ukraine am 17.6. geschehen ist. In der Meldung hieß es, dass Journalisten des Senders Russia Today, also des wichtigsten russischen Propagandainstruments, bereits 10 Minuten nach der Explosion vor Ort waren, und bereits 16 Minuten nach der Explosion einen Bericht auf rt.com veröffentlicht hätten. Die Vermutung zwischen den Zeilen: Die Explosion war ein Anschlag und die Journalisten von Russia Today von den russischen Drahtziehern im Vorfeld informiert. Im Kommentarbereich auf Facebook hatten sich bereits mehrere Journalisten zu dieser Geschichte geäußert und diese Vermutung weiter verstärkt.
(Quelle: twitter, EuromaidanPR)
Ich versuchte, näheres über die Meldung zu erfahren und folgte dem Verweis auf die Quelle. Ich landete bei der Nachrichtenseite/dem Blog EuromaidanPR, die wiederum auf die Facebookseite des CEO des ukrainischen Gasunternehmens Naftogaz verwies. Dieser hatte die Nachricht über die "schnellen Journalisten" von Russia Today aber nicht selbst geschrieben. Vielmehr stammte das Posting ursprünglich von der Facebookseite eines Maxim Prasolov. Dessen Beitrag war bereits über 200x geteilt und über 300x von anderen Facebook-Nutzern geliked worden. Die Nachrichten, die EuromaidanPR und andere Blogs auf Grundlage dieses Postings schrieben, wurden ebenfalls hundertfach geteilt und geliked.
Prasolov hat sich wahrscheinlich verrechnet, als er die These über die russischen Journalisten aufstellte, die 10 Minuten nach der Explosion vor Ort waren. Die Meldung zur Explosion war bei rt.com um 13:01 GMT (Zeitzone) veröffentlicht worden. Die Pipeline ist nach offiziellen Angaben um 14:45 lokaler Zeit explodiert. Zwischen GMT und lokaler Zeit liegen 3 Stunden, sodass die Meldung nicht 16 Minuten, sondern eine Stunde und 16 Minuten nach der Explosion auf der Seite von Russia Today auftauchte. Evtl. war der Grund des Irrtums die Sommerzeit in Großbritannien. Jedenfalls ist 13:01 GMT nicht 16:01 Moskauer Zeit, wie auf dem Bild von EuromaidanPR angegeben, sondern 17:01 Moskauer Zeit. So etwas kann passieren und wäre normalerweise kaum relevant, dann normalerweise hätten die Berechnungen eines Ukrainers, den ich zuvor noch nicht kannte, auch keinen Nachrichtenwert für mich.
Allerdings wurde dieser irrtümlichen Meldung peu à peu Nachrichtenwert verliehen und die ursprüngliche Quelle immer weniger offensichtlich. Zunächst erhielt die These mehr Bedeutung, weil der CEO von Naftogaz sie auf seiner Facebookseite teilte. Daraufhin verfasste EuromaidanPR, das sich vor allem durch die Aufdeckung russischer Propagandalügen einen Namen gemacht hat, daraus eine Nachricht mit offiziellem Klang. Zuletzt wurde diese Nachricht von öffentlich bekannten Personen, Experten und Journalisten vor Ort, geteilt und zustimmend kommentiert. Bis die Meldung meine Facebook-Wall erreicht hat, wurde sie auf hunderten von Seiten tausende Male geliked und noch häufiger gelesen.
Der Rechenfehler von Herrn Prasolov ist offensichtlich keinem aufgefallen. Dabei hat meine Recherche dazu nur 5 Minuten gedauert. Warum hat es keiner überprüft? Wie können wir so unkritisch sein in einem Konflikt, indem wir die Bedeutung von Desinformation tagtäglich diskutieren?
Ich mache dafür die kleinen Kiseljows verantwortlich, die wir uns zum Schutz und zum Ausgleich gegen die russische Propaganda angeeignet haben. Wir sehen die gemeingefährliche Wahrheits-Verzerrung von Russia Today und versuchen individuell dagegenzuhalten. Durch Postings, Blogs, geteilte Postings usw. enstehen dabei Nachrichten, die - vor allem über Facebook-Seiten von bekannten Namen - mit jedem zusätzlichen Like glaubhafter werden. So entstehen Falschmeldungen mit Autorität, obwohl keiner bestochen wurde, keiner gefälscht oder gelogen hat.
Weder die deutschen, nach andere europäische oder amerikanische Medien werden vom Staat dafür bezahlt, zu lügen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der russischen und der "westlichen" Medienlandschaft. Es gibt keinen großen westlichen Kiseljow. Trotzdem, oder gerade deshalb, müssen wir auch alle russlandkritischen Nachrichten kritisch hinterfragen. Wir müssen wach bleiben, weil die Armee der vielen kleinen westlichen Kiseljows in unseren Köpfen durch "kumulierte Glaubwürdigkeit" im Netz zuweilen zu einem großen westlichen Kiseljow wird und uns genauso die Sicht vernebeln kann, wie das russische Original.
PS: Wenn ich in diesem Eintrag "wir" schreibe, kann ich natürlich nur "ich" meinen. Es geht auch um Selbstkritik. Ich möchte niemanden einschließen, der sich schon jetzt intelligenter online informiert als ich!
Quellen:
Original-Post von Prasolov - https://www.facebook.com/maxim.prasolov.5/posts/10154264895160613
Repost auf Seite von Koboljew - https://www.facebook.com/andriy.kobolyev?fref=ts
Artikel von EuromaidanPR - http://euromaidanpr.wordpress.com/2014/06/18/russian-journalists-first-on-the-scene-of-gas-explosion-in-ukraine