Donnerstag, 2. Juli 2015

Über das Politisieren ökonomischer Proteste

Mit seiner jüngsten Äußerung zu den fortdauernden Protesten in Armenien hat der russische Außenminister Lawrow eine interessante Klassifizierung verschiedener Protest-Typen eingeführt. Lawrow warnt, die zutiefst ökonomischen Proteste könnten zu politischen Protesten gemacht werden.

Die Unterscheidung zwischen "ökonomischen Protesten" und "politischen Protesten" ist deshalb interessant, weil sie verdeutlicht, wie sich die politische Klasse in Russland legitimiert. Auch mit Blick auf die aktuelle Situation in Griechenland wirkt die Trennung zwischen beiden Protestformen erst einmal absurd. Was unterscheidet sie? Für Herrn Lawrow sind "politische Proteste" solche, die gegen die Regierung (bzw. auf den Austausch der Regierung) gerichtet sind, während "ökonomische Proteste" eine unpolitische Bekundung von Bedürfnissen und Notständen sind. So wie die russische Regierung den russischen Gesellschaftsvertrag interpretiert, sind "ökonomische Proteste" gewissermaßen konstruktive Kritik und erlaubt (siehe auch der Beitrag zum Pikaljowo-Komplex), während "politische Proteste" destruktiv und tabu sind.

Herr Lawrow weist auch darauf hin, dass alle Farbrevolutionen als ökonomische Proteste begonnen hätten. Über den Arabischen Frühlung könnte man ähnlich argumentieren. Wenn Lawrow "farbige Revolution" sagt, heißt das natürlich: Die schlimmen, destruktiven Revolutionen. D.h. irgendwann ist bei den ökonomischen Protesten etwas schiefgelaufen und sie haben sich in politische verwandelt (oder: wurden von westlichen Geheimdiensten dazu gemacht). Aber gab es diese Wandlung der Proteste wirklich?

Ich halte die Trennung von politischen und ökonomischen Protesten für eine institutionelle Innovation autoritärer Politik. Da die Politik über die Verteilung der ökonomischen Ressourcen entscheidet sind natürlich alle ökonomischen Proteste gleichzeitig politische Proteste. Die Trennung, die Lawrow zum Ausdruck bringt, ist fiktiv. Es handelt sich vielmehr um Labels, die Lawrow und andere den verschiedenen Protest-Typen aufdrückt. Durch die Einführung dieser Labels trennt die Politik die zwei wichtigsten Verbündeten jeder Revolution: Die Hungrigen und diejenigen, die mitbestimmen wollen.

Aber welche Arten von Protesten verstecken sich wirklich hinter den Bezeichnungen? "Ökonomische Proteste" sind diejenigen, in denen kein Anspruch auf Mitbestimmung angemeldet wird. Diese Proteste können als wichtiges Frühwarnsystem für politische Aufruhr sehr nützlich sein (wenn es gelingt, die Probleme wie in Pikaljowo zu lösen). Der "ökonomische Protest" (du wirst hier gebraucht, Zar!) nach Lawrows Lesart enthält immer die Möglichkeit, dass der Präsident einfliegen und das Problem lösen kann, das jemand weiter unten in der Hierarchie verursacht hat. Während ein "ökonomischer Protest" also einer ist, in dem das Einfliegen des Präsidenten erwünscht ist, wollen die "politischen" Demonstranten ihn lieber ausfliegen. Mit den Begriffen "ökonomisch" und "politisch" hat das aber weniger zu tun als mit einem vordemokratischen und einem demokratischen Verständnis von Herrschaft.