Mittwoch, 18. Februar 2015

Von Jelzin zu Putin - Vorzeichenwechsel

Die immer weiter reichende Eskalation der Lage in der Ostukraine wirft die Frage auf, was eigentlich in den vergangenen 15 Jahren in Russland so schieflaufen konnte, dass wir nun an der Schwelle eines neuen Großkonflikts mit diesem Land angekommen sind. Wäre die Ukraine-Krise auch unter Jelzin vorstellbar gewesen und wenn nicht - warum dann unter Putin?

Die politische Ära Putins und die (nur halb so lange) Präsidentschaftszeit Jelzins wirken nach außen hin zunächst einmal grundverschieden. Während Jelzin am ehesten mit den Begriffen Demokratie, Chaos oder auch Oligarchie in Verbindung gebracht wird, denken viele bei Putin am ehesten an Autoritarismus, eine äußerliche Ordnung und Zentralisierung von Macht.

Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen beiden Abschnitten der russischen Geschichte zu sehen, wäre aber ein Fehler. Unter Jelzin und Putin zeigt sich ein und dasselbe Problem einer Gesellschaft - unter verschiedenen Vorzeichen. Es fehlen tragfähige gesellschaftliche Institutionen. Eine unmittelbare Folge davon ist, dass es nicht zu einer Ausdifferenzierung der Gesellschaft in getrennte politische und ökonomische Sphären kommt. Wo wir im Westen selbstverständlich zwischen Politikern und Geschäftsleuten unterscheiden, würde man in Russland eher Machtmenschen unterschiedlicher Couleur sehen.

Dies wird deutlich, wenn man zwei beispielhafte und bekannte Episoden betrachtet: Die "Loans-for-Shares"-Privatisierung unter Jelzin sowie die Enteignung Chodorkowskis unter Putin. Loans-for-Shares war der Höhepunkt des Einflusses wirtschaftlicher Eliten in Russland, zu der vor allem Banker gehörten. Aus dieser Zeit ist der Begriff der "Semibankirschina" in Erinnerung geblieben - die Sieben-Banker-Großmacht, die die Politik in Moskau dominierte. Einige dieser Banker (unter anderem Chodorkowski) entwickelten ein Verfahren, wie unter Umgehung der Verfassung große Staatskonzerne vergünstigt in ihre Hände wandern konnten. Zuvor hatten die Medienkonzerne der Banker in einem propagandistischen Kraftakt Jelzin zum Präsidenten gemacht, während der kommunistische Favorit den Kürzeren zog.

Während die wackelige Autorität Jelzins auf die Unterstützung wirtschaftlicher Eliten fußte, beruht die Autorität Putins bekanntlich auf den "Silowiki", also Vertretern aus Geheimdiensten und Militär. Auf den Wechsel der dominanten Eliten mit Putins Amtsantritt 1999-2000 folgte eine weit reichende Umverteilung von Eigentum. Für manch einen westlichen Beobachter sah es nach Rechtsstaat aus, als Putin den Staatsorgane ermächtigte und gegen die Oligarchen vorging. Der Trend zum Machtausgleich zwischen Staat und Wirtschaft war aber nur die eine Hälfte der Bewegung eines großen Pendels. Dieses Pendel blieb nicht in der Mitte stehen, sondern es schwang weiter.

Im Westen wurde dieses Weiterschwingen frühestens bei der Enteignung Chodorkowskis wahrgenommen, der sich - ob unter dem Eindruck der davon schwimmenden Felle oder moralisch geläutert - inzwischen für eine regelbasiertes Miteinander von Staat und Wirtschaft aussprach. Mit dem Aufstieg neuer Oligarchen aus Putins Umfeld wurde deutlich, dass sowohl unter Jelzin als auch unter Putin die Macht auf ein- und dieselbe Weise organisiert ist: Durch persönliche Netzwerke, Eliten und einen untrennbaren ökonomisch-wirtschaftlichen Komplex, keineswegs aber über unpersönliche Regeln oder Institutionen.

Vor diesem Hintergrund ist es verbreitetes Missverständnis, dass liberale Politik für das Chaos im Russland der 1990er verantwortlich sind. Vielmehr hat sich gezeigt, dass liberale Politik auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen ist, dass es funktionierende gesellschaftliche Institutionen gibt. Im Machtkampf ohne Regeln sind liberale Positionen schwache Positionen. Hier lag der zentrale Irrtum ausländischer Berater, die hofften, die Institutionen würden schon nachwachsen wenn der Staat nur sein Eigentum verteilt - egal an wen (Siehe bspw. Boycko/Shleifer/Vishny 1993). Macht gewannen in dieser Zeit solche Akteure, die die Illusion der "Transformation zum Rechtsstaat" sofort erkannten und mit wirklich allen Mitteln Ressourcen akkumulierten.

Wenn das Putin'sche und Jelzin'sche Russland Ausprägungen desselben Grundproblems sind: Kann es uns dann egal sein, ob nun Eliten aus Militär und Geheimdienst dominieren oder Eliten, deren Spezialisierung eher im Ökonomischen liegt? Sicher nicht! Gerade im Hinblick auf die Russische Politik in der Ukraine wird der entscheidende Unterschied deutlich.

Die wirtschaftliche Eliten sind auf internationale Verflechtung angewiesen. Russische Großunternehmer sind Meister darin, ihre Imperien über komplizierte Offshore-Konstruktionen abzusichern. Sie bringen ihr Kapital ins Ausland und reinvestieren es als "ausländische Investoren" Russland. In ihren Verträgen können sie so den Gerichtsstand in westlichen Rechtsstaaten verlegen. Damit das Geschäft in Russland läuft, muss quasi Rechtsstaatlichkeit aus dem Westen importiert werden. Ein neuer Kalter Krieg würde die Besitztümer vieler Großunternehmer vernichten. Selbst diejenigen Unternehmer, die sich 15 Jahre mit Putin arrangiert haben oder gar durch ihn aufgestiegen sind, werden die aggressive russische Außenpolitik mit größter Sorge betrachten.

Die Silowiki, auch wenn sie vielleicht nebenberuflich ihre persönliche Macht zu Geld zu machen, sind Gewaltspezialisten. Sie bevorzugen einen großen Staat, der wirtschaftliche Ressourcen zu den Waffenträgern kanalisiert. Die Win-Win-Situation, die grundsätzliche Logik wirtschaftlicher Kooperation, passt nicht zu ihrem Mindset, stattdessen dominiert hier die Idee der Frontverschiebung. So erkennen sie auch die schmerzhafte Wirkung von Sanktionen erst sehr spät.

Während unter ökonomischen Eliten also ein großer, isolierender Konflikt mit dem Westen undenkbar ist, ist es für die Gewaltspezialisten ein attraktives Szenario. Ökonomische Eliten bekommen eine gesellschaftliche Katastrophe aufgrund der vorausahnenden Marktkräfte zu spüren, bevor ein Soldat die Kaserne verlässt. Silowiki können ihre Grenzen erst auf dem Schlachtfeld kennen lernen. Was eine diplomatische Lösung der Ukraine unter den gegenwärtigen russischen Machtverhältnissen betrifft, muss dies sehr pessimistisch stimmen.